Ein Rückblick auf den „Aufbau Ost“

Über 30 Jahre liegt nunmehr die Vereinigung der beiden deutschen Staaten zurück. Aufbrüche, Neuanfänge und Verlusterfahrungen prägten die Transformationsphase. Diese Widersprüchlichkeit formt das Bild und die Bilanzen über den „Aufbau Ost“ bis heute und war am vergangenen Donnerstagabend für die beiden Historiker, Dr. Marcus Böick (Bochum) und Dr. Christoph Lorke (Münster) Anlass, um über die Hintergründe und Auswirkungen dieses langjährigen Prozesses nachzudenken.
Zunächst stellte Marcus Böick wirtschaftliche Ausgangssituation nach dem Mauerfall im Herbst 1989 dar und gab einen Einblick in die sich anschließenden politischen Debatten, in denen verschiedene Varianten des Wirtschaftsumbaus in der DDR diskutiert wurden und auch, wie sich eine Annäherung oder Vereinigung beider deutschen Staaten vollziehen könnte. Die in der DDR zur Bewahrung des Volkseigentums gegründete Treuhandanstalt übernahm im Frühjahr 1990 die Verwaltung tausender DDR-Betriebe, die sich im Zuge der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion an marktwirtschaftliche Bedingungen anpassen mussten. Damit offenbarte sich jedoch schnell, dass die Variante der „schockartige“ Öffnung des Marktes der DDR mit weitreichenden Problemen einhergehen würde. Zuversicht und Euphorie wurden vor der „Wiedervereinigung“ nicht zuletzt durch die Reden des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl beschworen, der von „blühenden Landschaften“ in Ostdeutschland sprach und, dass es dort niemandem schlechter als vorher gehen würde. Doch nach der ersten gemeinsamen Bundestagswahl im Dezember 1990 wurde dieses positive Bild schnell in sein Gegenteil verkehrt, denn der beginnende „Aufbau Ost“ war eben auch von Betriebsstillegungen und Massenarbeitslosigkeit gekennzeichnet, denn die Treuhandanstalt begann ihr Aufgabenprofil nach der Vereinigung hin zu einer „Privatisierungsagentur“ zu verändern. Marcus Böick veranschaulichte, wie dadurch etwa ab März 1991 die „Montagsdemonstrationen“ wiederbelebt wurden und die ehemaligen DDR-BürgerInnen tausendfach gegen die Entscheidungen der Treuhandanstalt auf die Straße gingen.
Nicht nur in wirtschaftspolitischer Hinsicht sind die Erinnerungen an den „Aufbau Ost“ durchaus umkämpft, denn dieser hatte unausweichlich auch gesellschaftliche, soziale und kulturelle Folgen, wie Dr. Christoph Lorke im zweiten Teil des Vortrages verdeutlichte. Arbeitsplatzverluste, Massenarbeitslosigkeit und relative Armut bildeten in der Vereinigungsgesellschaft für die ehemaligen DDR-BürgerInnen einen neuen Erfahrungshorizont, wenngleich auch im SED-Staat soziale Ungleichheiten existierten. Diese negativen Begleiterscheinungen des „Aufbau Ost“ trafen vor allem Frauen – die „Wendeverliererinnen“. Im Vergleich zu den männlichen Arbeitnehmern, waren sie häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen und hatten sie auf dem gesamtdeutschen Arbeitsmarkt weniger Chancen wieder auf den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren. Ihr Wiedereinstieg bzw. eine Weiterbeschäftigung wurde vielfach erschwert, durch den Wegfall von betrieblichen Versorgungseinrichtungen. In der Konkurrenz um Arbeitsplätze wurden diese Ungleichheiten bei Alleinerziehenden und älteren Frauen verstärkt, wenngleich vor allem RentnerInnen zu den „Gewinnern“ des Vereinigungsprozesses gehörten. Ins soziale Abseits gerieten auch VertragsarbeiterInnen während der Vereinigung – sie waren in der Regel die ersten, die aus den Betrieben entlassen wurden und sahen sich in der Transformationsgesellschaft nun häufig Diskriminierung, Rassismus und auch Gewalt ausgesetzt.
Den Rückblick auf den „Aufbau Ost“ schloss Christoph Lorke mit einem Einblick in zeitgenössische und auch aktuelle Debatten über „Besserwessis“ und „Jammerossis“, die verdeutlichten, dass auch 30 Jahre nach der „Wiedervereinigung“ nicht nur soziale Ungleichheiten zwischen beiden Teilgesellschaften existieren, sondern auch eine differenzierte Bewertung und Erinnerung an den Vereinigungsprozess bestehen.